Die bekanntesten angeborenen Fehlbildungen im Bereich von Rückenmark und Wirbelsäule sind die sog. Spina bifida. Zu unterscheiden ist die offene Form (Spina bifida aperta), bei der das Kind mit einem Defekt geboren wird, der nicht von gesunder Haut überdeckt ist. Diese Form bedarf des schnellen operativen Verschlusses, idealerweise in den ersten 24 bis 48 Stunden. Wir versuchen dies in der Regel am Geburtstag zu realisieren, nachdem die Geburt bei bekannter Spina bifida mittels Kaiserschnitt erfolgt. Bei guter Gesundheit des Kindes kann dann der Verschluss des offenen Rückens als vorgeplante Operation unter Beteiligung aller Spezialisten am Nachmittag des Geburtstages erfolgen.
Davon abzugrenzen ist die geschlossene Form der Spina bifida (Spina bifida occulta), bei der eine gesunde geschlossene Haut über der Fehlbildung liegt. Aus diesem Grunde ist eine operative Korrektur nur in seltenen Fällen in den ersten Wochen nach Geburt notwendig. In der Regel lassen wir uns, je nach Ausprägung der Veränderungen und dem neurologischen Befund, mit der Operation sechs bis acht Monate Zeit, um den Kindern die Möglichkeit zu geben, größer zu werden, ihr Immunsystem voll zu entwickeln und widerstandsfähiger für eine länger dauernde Operation zu sein.
Beide, die offene wie die geschlossene Form, werden meist im Rahmen der vorgeburtlichen Ultraschalluntersuchung während der Schwangerschaft entdeckt.
Nach Diagnosestellung in der Pränatalmedizin wird möglichst zeitnah ein ausführlichen Beratungsgespräch vereinbart, welches gemeinsam von Kinderneurochirurgie und Kinderneurologie durchgeführt wird. Hier informieren wir Sie ausführlich über das Krankheitsbild, über mögliche Schritte nach der Geburt und über die Weiterbetreuung in der interdisziplinären Spezialsprechstunde für Spina-bifida-Kinder, in welcher Experten verschiedener Fachrichtungen für die gemeinsame Betreuung des Kindes in den folgenden Jahren zur Verfügung stehen.
Dies ist die schwerwiegendste Form, bei der sich bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt, meist noch bevor die Schwangerschaft bei der Mutter festgestellt wird, eine Störung in der Anlage des Rückenmarks ergibt, so dass sich hier eine Gewebeplatte nicht zum Rohr umformt und schließt. Infolgedessen wird die reguläre Entwicklung in diesem Areal gestört und es bildet sich keine Hirnhaut um das Rückenmark, ebenso nicht die üblichen Knochen der hinteren Wirbelsäule (Wirbelbögen), und es kommt auch nicht zum Verschluss der Haut.
Ziel des neurochirurgischen Eingriffs ist, unter größter mikroskopischer Vergrößerung und mit feinsten Instrumenten, das Rückenmark ohne Verletzung der daraus hervorgehenden Nervenwurzeln seitlich von der Haut zu lösen, den ausgebliebenen Verschluss zum „Rohr“ zu realisieren, dann die Hirnhaut zu rekonstruieren und abschließend, mit oder ohne Rekonstruktion einer Muskelschicht über dem Rückenmark, die Haut zu verschließen. Der letztere Schritt kann, wenn der Hautdefekt sehr groß ist, eine ausgedehntere plastische Hautoperation bedeuten.
Bei vielen Kindern mit offener Spina bifida hat sich durch den Verlust von Hirnwasser während der Schwangerschaft ein Tiefertreten des Kleinhirns ergeben (sog. Chiari-II-Fehlbildung), die u.a. eine Störung des Hirnwasserabflusses bedingt, so dass viele dieser Kinder einen Hydrocephalus bereits im Mutterleib oder in den folgenden Wochen und Monaten nach Geburt entwickeln. Die Behandlung des Hydrocephalus erfolgt dann wie im Kapitel „Hydrocephalus“ link skizziert.
Aufgrund der Tatsache, dass sich das Rückenmark nicht wie vorgesehen geschlossen hat und somit zusätzlich während der Schwangerschaft möglichen Einflüssen des Fruchtwassers ausgesetzt ist, kann es zu einer Störung der Funktion der Beine, sowie von Blase und Mastdarm kommen. Der Schweregrad der Störung kann, je nach Ausprägung der Rückenmarkschädigung und vor allem je nach „Höhe“ der Fehlbildung im Bereich des Rückenmarks von minimalen Einschränkungen mit gehfähigen Kindern und erhaltener Blasenfunktion bis zu kompletter Querschnittslähmung reichen.
Als Faustregel gilt: Je „tiefer“ die Läsion liegt, umso geringer die Lähmungen in den Beinen. Störungen von Blase und Darm sind jedoch meistens vorhanden. Bitte haben Sie Verständnis, dass wir weder an dieser Stelle, noch in unseren ausführlichen vorgeburtlichen Beratungsgesprächen, das genaue Ausmaß der Problematik am Geburtstag und in den ersten Monaten nach der Geburt präzise abschätzen können. Dies ist oft erst im Verlauf in den ersten Jahren der Entwicklung des Kindes möglich.
Die geistige Entwicklung der Kinder ist in vielen Fällen ungestört und hängt bei unkomplizierter Behandlung des Hydrocephalus im Wesentlichen davon ab, ob weitere Störungen im Gehirn vorliegen. Der Anteil an Kindern mit Entwicklungsstörungen bei offener Spina bifida ist auch bei problemloser Behandlung des Hydrocephalus höher als bei gesunden Kindern , die ohne offene Spina bifida geboren werden.
In einigen wenigen Zentren weltweit wird ein vorgeburtlicher Verschluss des Rückens durch Öffnen der Gebärmutter und offenem chirurgischem Verschluss des Rückenmarks, analog dem Verschluss nach der Geburt, durchgeführt. Eine große Studie in den USA (sog. MOMS-Studie) hat gezeigt, dass das Risiko für Mutter und Kind zwar erhöht ist, aber in vertretbaren Grenzen liegt, und die Wahrscheinlichkeit von Hydrocephalus, Chiari-II-Fehlbildungen und schweren Lähmungserscheinungen in den Beinen gesenkt werden kann. Ob eine geringere Rate an Blasenfunktionsstörungen ebenfalls erreicht werden kann, ist noch unklar. Die meisten dieser Kinder kommen infolge der vorgeburtlichen Operation, die zwischen der 21. und 26. Schwangerschaftswoche erfolgen muss, als Frühgeborene zwischen der 32. und 36. Schwangerschaftswoche zur Welt. In dem Zeitraum zwischen vorgeburtlicher Operation und Geburt werden Mutter und Kind sehr engmaschig und oft auch über längere Zeit im Krankenhaus überwacht.
Das für den süddeutschen Raum erfahrenste und am nächsten gelegene Zentrum ist in Zürich bei Professor Meuli im Universitätsspital/Kinderspital angesiedelt. Mit diesem Zentrum besteht eine gute Kooperation.
In Deutschland wird seit Jahren ein endoskopisches Verfahren, aktuell am Universitätsklinikum in Gießen, durch einen hochspezialisierten Kinderarzt praktiziert. Hierbei wird die Gebärmutter nicht chirurgisch im klassischen Sinn eröffnet, sondern mit mehreren Endoskopen über kleine Öffnungen in der Wand „betreten“ und dann in einer „geschlossenen“ Operation über die Endoskope der Defekt am Rückenmark „abgedeckt“. Das Rückenmark wird nicht wie bei der offenen Operation im Mutterleib geschlossen und nachfolgend die Hirnhaut und Haut darüber wiederhergestellt. Die Abdeckung mittels körperähnlichen Materialien wird direkt auf das offene Rückenmark platziert und seitlich an der Haut befestigt und dient als Leitschiene für eine sogenannte „Sekundärheilung“ der Haut, die darüber nach der Geburt vernarbt. Der primäre Zweck der Operation, nämlich den Verlust von Hirnwasser über den offenen Rücken im Mutterleib zu stoppen, und auch einen Schutz des Rückenmarks vor Einflüssen des Fruchtwassers zu bewirken, wird durch diese Form des Eingriffs ebenfalls erreicht.
Bislang sind für diese Behandlungsform trotz größerer Patientenzahlen keine umfassenden Ergebnisse, sondern nur Teilergebnisse publiziert worden. Man vermutet, dass die initialen Ergebnisse vergleichbar zu den initialen Ergebnissen der MOMS Studie sind.
Wie bei einer „Sekundärheilung“ zu erwarten, können nach der Geburt Wundheilungsstörungen auftreten und kleinere Nachoperationen notwendig sein. Das Kind muss in der Regel während dieser Sekundärheilungsphase über Wochen nach der Geburt im Krankenhaus verbleiben, bis die Wundheilung abgeschlossen ist.
Große Sorgen bestehen in Bezug auf die später bei sehr vielen Kindern mit offener Spina bidifa notwendigen Nachoperationen beim sog. Tethered cord Syndrom. Ein Festwachsen des Rückenmarks (tethered cord) im OP Bereich tritt immer und bei jeder Art des Verschlusses auf. Das festgewachsene Rückenmark gerät im Rahmen des Wachstums des Kindes dann unter Spannung und muss gelöst werden, wenn Ausfälle oder Beschwerden auftreten. Beim offen-chirurgisch verschlossenen Rückenmarks, welches zudem von einer Rückenmarkshaut umgeben ist, liegen jahrzehntelange Erfahrungen vor und die Operationen sind trotzdem komplex und erfordern viel Expertise.
Beim endoskopischen Verfahren ist es noch völlig unklar, was das Lösen eines zuvor nicht geschlossenen Rückenmarks, welches offen (mit seinem Innersten nach außen) und zudem ohne dazwischen liegende Hirnhaut mit einer harten Hautnarbe verwachsen ist, für den Funktionserhalt des Rückenmarkes bei der späteren Lösungsoperation bedeutet.
Aus diesem Grunde stufen wir das Verfahren als experimentell ein und als prinzipiell dem offenen operativen Verschluss unterlegen, für den zudem eine bessere Datenlage existiert.
Hier existieren verschiedene Formen. Eine leichte Ausprägung existiert z.B. im Sinne eines Gangsystems vom Rückenmark zur Haut (Dermalsinus) oder eines verdickten und verfetteten Fadens (fatty filum), die das Rückenmark fesseln und bereits im Mutterleib am Aufsteigen gehindert haben. Andere schwerwiegendere Formen umfassen Fettansammlungen (sog. Lipome), die in jeglicher Ausprägung von kleinen Lipomen innerhalb der Hirnhaut bis zu schweren assoziierten Fehlbildungen mit Störung des Verschlusses der Hirnhaut und Ausdehnung des Lipoms bis unter die Haut vorliegen können.
Ebenso ist eine Störung bekannt, bei der ein Knochen in die Tiefe wächst und das Rückenmark spaltet (Diastematomyelie).
Das genaue operative Vorgehen, der beste Zeitpunkt für eine Lösung des festgewachsenen Rückenmarks sowie die operative Technik, muss für jedes Kind individuell in ausführlichen Gesprächen mit den Eltern erläutert werden. Alle Operationen werden auch hier unter ausgedehntem intraoperativem Monitoring zur Funktionsüberwachung von Blase, Mastdarm, Gefühl und Beweglichkeit der Beine durchgeführt. Mit den heute verfügbaren mikrochirurgischen Techniken und dieser Funktionsüberwachung sind die Eingriffe hinreichend sicher. Im Regelfall überwiegt der Benefit einer Lösung des Rückenmarks zu einem frühen Zeitpunkt zwischen sechs Monaten und anderthalb Jahren die operativen Risiken einer Funktionsverschlechterung im späteren Leben. Auch hat sich gezeigt, dass eine möglichst vollständige Entfernung des Lipoms bzw. Lösung aller Verwachsungen und Wiederherstellung einer glatten Rückenmarkoberflache und eines ausreichend weiten Nervenwurzelsackes notwendig ist, um erneute Beschwerden zu verhindern. Hier hat sich in den letzten Jahren aufgrund vorteilhafterer Ergebnisse in großen Serien mit weitgehender Resektion ein Wechsel in der Vorgehensweise vollzogen. Voraussetzung ist allerdings die Verfügbarkeit einer umfassenden Funktionsüberwachung des Rückenmarkes mit entsprechendem hochspezialisiertem Personal. Das ist in Tübingen routinemäßig gegeben.
Wie oben aufgeführt, besteht zum Zeitpunkt der Geburt bei beiden Formen (offene und geschlosse Spina bifida) bereits ein festgewachsenes, „gefesseltes Rückenmark“, im Englischen „tethered cord“ genannt. Bei der ersten Operation wird das Rückenmark gelöst. Bei allen Formen der offenen Spina bifida kommt es nach der Primäroperation wieder zu einem Festwachsen, bei den geschlossenen Formen hängt die Rate des Festwachsens vom Ausmaß der präoperativen Fehlbildung und der Vollständigkeit der ersten Operation ab. Ein erneut festgewachsenes Rückenmark (Tethered cord) hat zunächst keine Bedeutung, und die Darstellung dieser Tatsache in Kernspintomographien, die wir zu wohl überlegten Zeitpunkten durchführen, hat solange keine Relevanz, bis Beschwerden oder Ausfälle auftreten. Erst dann spricht man vom sog. Tethered-cord-Syndrom und das Rückenmark muss in einer erneuten mikrochirurgischen Operation unter Überwachung der Funktion erneut gelöst werden.
Da diese Symptome schleichend und am Anfang sehr subtil auftreten, ist die genaue Funktionsüberwachung von Kraft und Gefühl in den Beinen, von Blasen- und Mastdarmfunktion, und von Verkrümmungen der Wirbelsäule oder Fehlstellungen der Füße bei einem Kind mit Tethered cord wichtig. Dies ist eine der Kernaufgaben der interdisziplinären Spina-bifida-Ambulanz.
Auch hier gilt es mit Augenmaß Ihrem Kind so wenige Untersuchungen wie möglich, aber so viele wie nötig zuzumuten, um die Ausbildung einer problematischen Situation (Beginn eines Tethered-cord-Syndroms) rechtzeitig zu erfassen, so dass durch eine erneute Lösungsoperation weiterer Schaden vom Kind abgewendet werden kann. Der Mehrzahl der bereits eingetretenen, schwerer wiegenden Ausfälle kann nicht mehr vollständig rückgängig gemacht werden.